Kurzer Kirchenführer

Außenbau

(Suchen Sie sich am besten eine Position an der Straßenecke vor Luitpoldstraße 22.)

Sie stehen vor nichts weniger als der ersten modernen Kirche in Deutschland, einer Kirche, die es so kein zweites Mal gibt.

Mit dem Bahnanschluss und der Industriellen Revolution wuchs die Bevölkerung Dettingens. Statt die historische Wallfahrtskirche St. Hippolyt zu erweitern, entschloss man sich 1922 zu einem Neubau auf noch freiem Feld.

Der junge Pfarrer (Hugo Dümler, 33jährig) gewann die später berühmten Architekten Dominikus Böhm (43jährig) und Martin Weber (33jährig) sowie den Hanauer Expressionisten Reinhold Ewald (33jährig) und schuf mit ihnen zusammen ein Kunstwerk ersten Ranges. Das erregte Aufsehen. Und Widerstand.

Hugo Dümler (1889–1950)
Hugo Dümler (1889–1950)
Dominikus Böhm (1880–1955)
Dominikus Böhm (1880–1955)
Martin Weber (1890–1941)
Martin Weber (1890–1941)
Reinhold Ewald (1890–1974)
Reinhold Ewald (1890–1974)

Dabei wirkt das äußere Erscheinungsbild zunächst gar nicht so innovativ.

Wir erkennen eine Basilika mit Hauptschiff und Seitenschiffen, einem Portalturm mit abschließendem Zinnenkranz und einer mittigen Fiale. Vorne scheinen sich noch Querhäuser vor den rechteckigen Chor zu schieben.

Auffällig ist, dass die Seitenschiffwände fensterlos sind und nur im Obergaden eine Reihe Dreiecksfenster angebracht ist.

Das Bruchsteinmauerwerk besteht aus heimischem, rotem Mainsandstein, durchzogen von Ziegelbändern, die einerseits historisches Zitat, andererseits auch Schmuckelement sind. Diese Vertikalen wirken wie Geschosshöhen, sind aber in der Realität nur 1,6 Meter hoch. Dadurch wirkt der Bau monumentaler.

Auch der Portalturm mit seiner Zinnenbekrönung verleiht dem Äußeren ein burgartiges Aussehen.

Außenansicht ca. 1994

Außenansicht ca. 1994

Die Kupferdächer stammen von 1997, zeichnen aber die originalen Formen nach. Der „Deckel“ auf dem Turm – noch dazu in komplementärer Farbe – nimmt diesem allerdings den Schwung und die Ausrichtung nach oben. Der bossierte Stein an der Ecke sollte die Zifferblätter der Kirchturmuhr aufnehmen. (Entwürfe von Dominikus Böhm sind vorhanden; sie wurde nie gebaut.)

Auch die Portalzone wurde in der Vergangenheit mehrfach umgebaut und zuletzt 1988 mit einem Oberlicht versehen. (Einer der Löwenköpfe ist ein Original, der andere ein Abguss. Auf frühen Fotos sind beide zu erkennen. Diese Fotos lassen auch die Rekonstruktion der originalen Portalanlage zu.)

Die Portalfiguren (wie auch der Altar im Inneren) stammen vom Frankfurter Bildhauer Paul Seiler. Die plastischen Entwürfe befinden sich im Museum.

Innenraum (Architektur)

(Ein Lichtschalter befindet sich an der Wand rechts vom Altarraum. er beleuchtet den Kirchenraum für 20 minuten. Am besten versuchen Sie es ohne Beleuchtung: die Augen gewöhnen sich.)

Der Bau wirkt im Inneren vollständig anders. Die burgartige Schwere weicht einer transparenten Leichtigkeit. Verantwortlich dafür sind die dünnen Stützen und der offene Dachstuhl. Auch die Lichtführung tut ein Übriges.

Während im Profanbau der Eisenbeton schon seit Jahrzehnten üblich ist, verwenden Böhm & Weber ihn hier im Sakralbau erstmals ohne Verkleidung. Die konstruktiven Elemente liegen offen. Der Beton ermöglicht auch neue Formen: Schauen Sie sich die Deckengewölbe in den beiden hinteren Beichtkapellen an!

Emporenanlage aus der Bauzeit mit der Siemann-Orgel von 1924.

Emporenanlage aus der Bauzeit mit der Siemann-Orgel von 1924.

Die Dreiecksform dominiert: Die Fenster im Obergaden, die „Bögen“ über der Empore (ursprünglich auch darunter, die Empore lag höher und ragte in drei Elementen dreieckig in den Raum hinein), der Chorbogen (zum Trapez auseinandergezogenes Dreieck). Auch die Stützpfeiler sind nicht etwa vier- sondern fünfeckig und ragen mit ihrer Spitze ins Hauptschiff. Selbst die Wangen der Kirchenbänke folgen dem Dreiecksmuster.

Die Lichtführung ist suggestiv. Der Eintretende steht im Dunkel (das Oberlicht über dem Portal wurde erst 1988 eingesetzt). Fenster sind auf den ersten Blick keine sichtbar. Das Licht rieselt im Hauptschiff dezent von oben herab. Erst im Altarraum entsteht eine dramatische Lichtfülle und beleuchtet Altar und Bild sehr effektvoll.

Das meinen Böhm & Weber wohl, wenn sie in der schmalen Einweihungsschrift sich gegen den Vorwurf des Expressionismus verteidigen und stattdessen behaupten, die Kirche sei „eine Verschmelzung von tiefernster Gotik und freudigstem Barock“.

Ausmalung

Anders als die innovative Architektur war die expressionistische Ausmalung Ziel harscher Kritik. Der Hanauer Maler Reinhold Ewald hatte bis dato noch keinerlei religiöse Werke geschaffen, wohl aber (die Wandflächen im Frankfurter Café Bauer gestaltet und) auf renommierten Ausstellungen („Darmstädter Sezession“, „Das junge Rheinland“ 1919) vertreten. Vermutlich würde der Pfarrer Hugo Dümler – als Schüler Herman Schells selbst ein sehr kunstsinniger Mann – dort auf ihn aufmerksam.

Ewald war seit 1921 Lehrer an der Hanauer Zeichenakademie und stand in den 1920er Jahren seinen Malerkollegen (Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Franz Marc …) nicht nach. Seine Werke waren in vielen großen deutschen Museen vertreten und Ewald war „auf dem Weg, der raffinierteste deutsche Maler zu werden“ – so eine Rezension zur vielbeachteten Ausstellung „Deutscher Expressionismus“ in Darmstadt 1920. Erst die Kampagne „Entartete Kunst“ der Nationalsozialisten setzte seiner Karriere ein jähes Ende. Ewalds Bekanntheitsgrad erholte sich nach dem Krieg nicht mehr davon.

Als Ewald 1922 erstmals in den Rohbau der Dettinger Kirche kam, befand er sie als „zu eng und maßlich zu festgelegt“. Er wollte die „Architektur durch eine suggestiv wirkende, raumausweitende Malerei in italienischem Sinne übertönen“. (Auf Studienreisen nach Italien faszinierten ihn vor allem die Fresken Giottos und Piero della Francescas.) Das „Übertönen“ der Architektur ist ihm gelungen: Der Kirchenraum endet für den Betrachtenden nicht an der gebauten Wand, sondern öffnet sich durch die Bilder. Zwei Beispiele: (1) Die Kreuzigung (XII. Station) hat keinen greifbaren Hintergrund, keinen Horizont, auch die Assistenzfiguren scheinen ohne Schatten zu schweben. Die Raumtiefe ist nicht abschätzbar. (2) Bei der Kreuzigung über dem Altar steht das Kreuz nicht frontal, sondern schräg; der rechte Arm Christi ragt über die Wand hinaus.

Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, Mitteltafel (Musée Unterlinden, Colmar)

Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, Mitteltafel (Musée Unterlinden, Colmar)

Das monumentale Altarbild (5,60 × 5,60 m) Altarbild reagiert auf die Mitteltafel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (ca. 1515), wenn auch das Figureninventar ein anderes ist. Das heute blassrosa Gewand des Lieblingsjüngers Johannes wurde einst als „flammendes Rot“ beschrieben. So ist das auch bei Grünewald, wenn dieser auch Johannes zu Maria stellt, während sich bei Ewald die Mutter Jesu in ihrer Agonie an den linken Kreuzesstamm lehnt. Zu Füßen Jesu ist Maria Magdalena hingesunken mit in Trauer aufgelöstem Haar.

Ewald fügt der Szene die beiden mit Jesus gekreuzigten Schächer (Mörder) hinzu. Der eine (rechts) ohne Gesicht und mit geballten Fäusten blickt in die Finsternis hinaus. Er lästert: „Wenn du der Messias bist, hilf dir selbst uns!“ Der andere weist ihn zurecht und nimmt Kontakt zu Jesus auf, der im verheißt „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Im Bild wird das deutlich durch seine Blickrichtung auf Jesus und die über dem Kopf gebundenen Arme, die optisch wie ein ägyptisches Henkelkreuz wirken, das Zeichen für das Leben. Auch sind seine Beine nicht gebunden; er scheint bereits den ersten Schritt herab vom Kreuz Richtung Paradies zu machen.

Reinhold Ewald: Entwurf für das Altarbild in Dettingen
Reinhold Ewald: Entwurf für das Altarbild in Dettingen
Alois Bergmann-Franken: Kreuzwegstationen in St. Bonifatius Großwelzheim
Alois Bergmann-Franken: Kreuzwegstationen in St. Bonifatius Großwelzheim

Böhm & Weber hatten sich eine eher flächige/schematische Darstellung vorgestellt (wie sie vier Jahre später von Alois Bergmann Franken in der von Böhm erweiterten Großwelzheimer Bonifatiuskirche erfolgte). Ewald überzeugte den Pfarrer allerdings mit dem Entwurf dieses Altarbildes von einer expressionistischen Malerei. In der Folge ließ ihm der Bauherr freie Hand und bezog auch das diözesane Bauamt in Würzburg nicht ein. So entstand unter den Händen eines jungen Teams (fast alle 33-jährig) und ohne Mitwirkung irgendwelcher Gremien in Dettingen ein weltweit einzigartiges Kunstwerk.

In der Öffentlichkeit gab es hitzige Diskussionen. Die Kirche verbot zunächst die Weiterarbeit (bei der Einweihung waren nur die 3 Altarbilder und 1–2 Kreuzwegstationen vollendet, die Fertigstellung dauerte bis 1927, daher auch die unterschiedlichen Malstile) und verlangte Änderungen (z.B. am Engel der Verkündigung). Die Fachwelt reagierte hingegen beeindruckt, ja geradezu euphorisch.

Die vier Bilder des Marienlebens schieben sich quer zur Passionsthematik in den Raum:

(1 ganz links) Das Bild zeigt die Begegnung der schwangeren Frauen Maria und Elisabeth, „Maria Heimsuchung“ (Elisabeth in der Mode der „Golden Twenties“).

(2 links) Die Verkündigung an Maria ist durch bischöfliche Auflagen 1923 (der Engel musste ein hochgeschlossenes Gewand tragen und auch sein tänzerischer Hüftschwung wurde zwischenzeitlich „begradigt“) und eigene Restaurierungen des Malers 1974 das am stärksten in Mitleidenschaft gezogene Bild. Viele Details sind kaum noch zu erkennen. Die Gestaltung reagiert ebenfalls auf den Isenheimer Altar.

(3 rechts) Die Geburt Jesu zeigt im Hintergrund Josef als Zimmermann mit den Gesichtszügen des Architekten Böhm. Die Leiter, „auf der die Engel Gottes auf- und niedergehen“ (Jakobs Traum Gen 28,12) kehrt im gleichen Winkel im Kreuzigungsbild wieder: An Weihnachten kommt Gott zu uns als Mensch. Am Karfreitag öffnet sich uns der Zugang zum Paradies.

(4 ganz rechts) Das fast wie ein Andachtsbild gestaltete Wandgemälde wird als Rast auf der Flucht nach Ägypten bezeichnet. Modell für den Jesusknaben war Ewalds Sohn Anatol.

Von Ewald stammt auch die Terrakotta-Figur des Marienaltars. Die Josefsstatue, die Ausstattung der beiden Seitenaltäre sowie weitere Heiligenfiguren schuf die Würzburger Bildhauerin Hede Rügemer, die auch für den Kirchenarchitekten Albert Boßlet arbeitete. Der Apostelaltar von Paul Seiler ist leider bereits seit 1932 nicht mehr im Originalzustand und wartet auf seine Rekonstruktion.


Originalbeitrag von Michael Pfeifer


Für individuelle Kirchenführungen können Sie mich gerne ansprechen. Die Kontaktdaten finden Sie im Impressum.