Lichtweg zur Sommersonnenwende
Jedes Jahr um die Sommersonnenwende am 21. Juni zeigt sich zur Mittagszeit in der Dettinger Kirche ein beeindruckendes Phänomen: Im Mittelgang sind helle Lichtflecken zu erkennen, die aus den kleinen Dreiecksfenstern im Obergaden in die Achse der Kirche fallen. Auch noch zum Patronatsfest am 29. Juni sind die Lichter oft zu sehen. Sie führen wie eine Straße aus Licht vom Portal zum Altar.
Ähnliches ist auch schon in mittelalterlichen Basiliken zu beobachten, etwa in der Aschaffenburger Stiftskirche oder der Seligenstädter Basilika. Seit damals zeigt der „Lichtweg“ an, dass das Christusereignis – Jesu Menschwerdung, sein Tod und seine Auferstehung – Bedeutung für den gesamten Kosmos hat.
Auch die Dettinger Peter-und-Paul-Kirche ist als Basilika konzipiert. Seitenschiffe flankieren das Mittelschiff, das in den Altarraum mündet. Was Dettingen von mittelalterlichen Bauten unterscheidet, ist neben der zeitgenössischen Ausprägung der formalen Details und dem Verwenden moderner Baustoffe vor allem die Lichtführung. Die Architekten Dominikus Böhm und Martin Weber verzichten in den Seitenschiffen auf Fenster. Einzig kleine Dreiecksluken belichten den Gemeinderaum aus dem Obergaden herab. Der dunkle Eingangsbereich, das Halbdunkel des Gemeinderaumes gipfelt dann aber im lichterfüllten Altarraum. Böhm baute mit Licht. Nicht nur Dettingen – viele seiner Kirchenbauten zeugen davon.
Dennoch war es eine Überraschung: Peter Spielmann, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem geistlichen Gehalt mittelalterlicher Kirchenarchitektur auseinandergesetzt hat entdeckte bei einem Besuch um die Sommersondenwende 2002 den Lichtweg mittelalterlicher Sakralbauten in Dettingen.
Bei langen Aufenthalten im burgundischen Vézelay ist Spielmann dem Geheimnis der dortigen romanischen Kathedrale auf die Spur gekommen. Hier zeigt sich zur Zeit der Sommersonnenwende mittags das beeindruckende Schauspiel des Lichtweges: Durch die südlichen Fenster des Obergadens fallen Lichtflecken exakt in die Mittelachse der Kirche und bilden so eine Straße aus Licht, die vom Portal zum Altar führt. Das gleiche Phänomen zeigt sich auch in der Aschaffenburger Stiftskirche oder der Einhards-Basilika in Seligenstadt. An den Tagen um den 21. Juni werden die Gläubigen durch das Licht von der Schwelle zum Zentrum in der Vierung geleitet.
Diesen Weg versteht Spielmann als einen Weg der Initiation: Die Statuen der Kirchenpatrone Petrus und Paulus empfangen den Suchenden am Kirchenportal im Osten und führen ihn ein in den Weg. Das Licht zeichnet die gerade Linie bis zum Altar. Im Osten liegt nach biblischen Vorstellung der Garten Eden, von dem die Menschheit einst vertrieben wurde. Im Westen hingegen sucht die Tradition das Paradies. Zeichenhaft begibt sich der Gläubige also auf seinen Lebensweg: Hineingeworfen in die Welt strebt er dem Paradies zu. In der Kirche – so Spielmann weiter – vertritt diese Stelle der Altar, der gewissermaßen die Kontaktstelle zwischen Himmel und Erde darstellt. Die Straße aus Licht wird in Dettingen flankiert von den riesigen Kreuzwegstationen Reinhold Ewalds. „Dies ist das Beispiel Jesu“, sagte Spielmann, „in seiner Nachfolge sieht sich der Gläubige auf seinem persönlichen Weg.“
Was in der Kirche gegenwärtig wird – Menschwerdung Gottes, sein Tod und seine Auferstehung – hat eine kosmische Bedeutung. Daher bezogen mittelalterliche Baumeister ganz selbstverständlich astronomische Konstellationen in ihre Kirchenbauten ein, um den Raum zu bestimmten Zeiten mit bedeutsamem Licht zu füllen. Offen ist die Frage, ob Dominikus Böhm und Martin Weber vor achtzig Jahren das Lichtphänomen in der Dettinger Kirche bewusst konstruierten oder es nur eher zufällig entstand.
Originalbeitrag von Michael Pfeifer
vgl. https://michael-pfeifer.de/strasse-aus-licht/